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Adipositas-Paradoxon – leben übergewichtige Menschen länger?

Leichtes Übergewicht könnte das Leben verlängern – diese umstrittene These ist als „Adipositas-Paradoxon“ bekannt. Ob es zutrifft, hängt von möglichen Begleiterkrankungen ab.

Überflüssige Pfunde – gefährlicher Ballast oder Hilfe zum Überleben? Wissenschaftler streiten seit Jahren über diese Frage, ein Ende ist noch nicht in Sicht1,2. Das sogenannte Adipositas-Paradoxon ist wohl nur mit sehr viel Aufwand zu lösen. Doch eigentlich ist der Ausgang dieses Streits fast belanglos – die Lehren für die eigene Gesundheit sind längst klar.

Eine zentrale Rolle in dieser Frage spielt der Body-Mass-Index (BMI), der sich aus dem Verhältnis von Körpergröße und -gewicht errechnet. Dieser einfache und populäre Wert gibt Aufschluss über den Anteil des Körperfetts (allerdings mit zahlreichen Einschränkungen) und erlaubt die Einteilung in Kategorien:

  • Normalgewicht – BMI zwischen 18,5 und 24
  • leichtes Übergewicht – BMI zwischen 25 und 30
  • Fettleibigkeit oder Adipositas – BMI größer als 30

Körperfett und Sterblichkeit

Da der BMI so leicht zu errechnen ist, fließt er auch in viele medizinische Studien ein. Zahlreiche Statistiken stellen das Verhältnisse mit allen möglichen Krankheiten her – und natürlich auch mit der Mortalität oder Sterberate bzw. Sterblichkeit.

Auf den ersten Blick erscheint der Zusammenhang ganz offenkundig. Da Übergewicht den Kreislauf belastet, das metabolische Syndrom und Diabetes auslösen kann sowie das Risiko für mache Krebsarten steigert, sollte auch die Sterberate erhöht sein. Diese Vermutung wird bei Fettleibigkeit oder Adipositas (BMI größer als 30) eindeutig bestätigt.

Aber was ist bei leichtem Übergewicht (BMI zwischen 25 und 30)? Hier erlebten Forscher eine Überraschung. Bei der Auswertung hunderter Studien stieß die US-Forscherin Katherine Flegal auf ein scheinbares Paradoxon: Die allgemeine Sterberate ist gegenüber Normalgewichtigen um sechs Prozent verringert3.

Heftiger Widerspruch gegen das Adipositas-Paradoxon

Diese Behauptung hat einen bitteren Streit ausgelöst. Der in den USA sehr prominente Ernährungsmediziner Walter Willett bezeichnete Flegals Studie unverblümt als einen „Haufen Müll“1. In seinen eigenen Analysen, die im Wesentlichen auf den gleichen Datensätzen beruhen, kommt er zu ganz anderen Ergebnissen: Hier war das Sterberate bei leichtem Übergewicht um bis zu 20 Prozent erhöht4.

Wie kann es sein, dass seriöse Forscher zu gänzlich unterschiedlichen Ergebnissen kommen? Das Problem liegt bei statistischen Störfaktoren oder Confoundern, die einen falschen Zusammenhang zwischen BMI und Sterberate herstellen. Etwa das Rauchen: Es mindert den Appetit und führt zu Gewichtsabnahme, erhöht aber deutlich das Risiko für Lungenkrebs und damit die Sterblichkeit. Oder auch schleichende Krankheiten wie etwa Krebs, die schon vor der Diagnose den Körper auszehren und das Gewicht reduzieren können. In beiden Fällen ist die Sterberate bei Normalgewichtigen erhöht und verzerrt das Verhältnis zu Übergewichtigen.

Sowohl Flegal als auch Willett sind sich dieses Problems bewusst, sie finden jedoch andere Lösungen dafür. Flegal setzt in der Statistik Korrekturfaktoren ein, die aus den bestehenden Daten die verzerrenden Störgrößen herausrechnen sollen. Willett und seine Nachfolger schließen aus ihren Analysen jedoch rigoros alle Personen aus, die zu bekannten Risikogruppen gehören und das Ergebnis verfälschen können. Es sind also unterschiedliche statistische Methoden, die dazu führen, dass ernsthafte Wissenschaftler aus den gleichen Daten unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen.

Es kommt auf die Erkrankungen an

Ein pauschales Urteil, ob Übergewicht das Leben verkürzt oder nicht, scheint also nur schwer möglich. Wer etwas differenzierter denkt, kann aber dennoch einiges lernen. Wissenschaftler aus Hamburg haben dies vor einigen Jahren gut zusammengefasst5. Ihre Auswertungen deuten an, dass ein leichtes Übergewicht die Sterberate insgesamt kaum beeinflusst. Bei übergewichtigen Männern, die an Krebs leiden, sinkt die Sterberate sogar um etwa 7 Prozent, vielleicht weil der Körper dem unvermeidlichen Gewichtsverlust mit mehr Ressourcen begegnet. Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen hingegen erhöht das Übergewicht die Sterberate um etwa 10.

Neben der Sterberate, die beim Adipositas-Paradoxon im Vordergrund steht, spielt natürlich auch die Häufigkeit von Erkrankungen (Morbidität) eine große Rolle. Und hier ist es eindeutig, dass Übergewichtige häufiger an Bluthochdruck und Diabetes erkranken. Jedes Kilo weniger kann diese Risiken deutlich senken.

Das Adipositas-Paradoxon bleibt umstritten, aber dennoch lässt sich aus dieser Diskussion einiges lernen. So ist leichtes Übergewicht zwar in mancher Hinsicht von Vorteil, in vielen anderen aber von Nachteil. Der BMI ist nur ein Risikofaktor unter vielen, und Prognosen über die eigene Gesundheit sollten auf so vielen Faktoren wie möglich beruhen. Es kommt also immer auf die Umstände an – jeder muss für sich selbst (oder mit Hilfe seines Arztes) die richtigen Lehren ziehen.

Wichtiger Hinweis
Dieser Artikel gibt den aktuellen Stand des Wissens wieder. Er enthält jedoch nur allgemeine Hinweise, die nicht für eine Selbstdiagnose oder Selbstbehandlung geeignet sind. Einen Arztbesuch kann er auf keinen Fall ersetzen.

Quellen und weiterführende Literatur

  • 1 G. Rüschemeyer, Übergewicht: Darf’s auch ein bisschen mehr sein?, Cochrane Blog, Februar 2020 (Link)
  • 2 Deutsches Ärzteblatt,Immer mehr Studien widerlegen Adipositas-Paradoxon, März 2018 (Link)
alle Referenzen anzeigen
  • 3 Flegal et al., Association of All-Cause Mortality With Overweight and Obesity Using Standard Body Mass Index Categories: A Systematic Review and Meta-analysis, JAMA, Januar 2013 (Link)
  • 4 Global BMI Mortality Collaboration, Body-mass index and all-cause mortality: individual-participant-data meta-analysis of 239 prospective studies in four continents, Lancet, Juli 2016 (Link)
  • 5 Lenz et al., Morbidität und Mortalität bei Übergewicht und Adipositas im Erwachsenenalter, Deutsches Ärzteblatt, Oktober 2009 (Link)
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